(Aus: Dokumentation des Dritten Kulturpolitischen Bundeskongresses am 23./24. Juni 2005 in Berlin, Kulturpolitische Gesellschaft e. V, Bonn, Klartext Verlag, Essen)
Von Reiner Michalke
Während es zur der langen Geschichte der Spielstätten für Sport und Kunst nur wenige kulturpolitische oder gar wissenschaftliche Betrachtungen gibt, ist die jüngere Geschichte dieser Kult(ur)-Stätten so gut wie gar nicht dokumentiert. Gerade das 20. Jahrhundert verfügt mit dem Aufkommen der Lichtspielhäuser und neuartigen Spielstätten wie Musik-Clubs und Sozio-kulturellen Zentren über eine ausgesprochen interessante Entwicklung. Besonders interessant wird zu beobachten sein, wie sich diese Spielstätten-„Szene“ im 21. Jahrhundert entwickeln wird. Schließlich ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Internet die nach dem Fernsehen zweite große virtuelle Spielstätte entstanden. Das Internet trumpft jedoch mit dem gegenüber dem Fernsehen unschätzbaren Vorteil auf, auch die Interessen von Minderheiten umfänglich bedienen zu können. Im Folgenden soll ein Aspekt, der von den Spielstätten für die sogenannte Aktuelle Musik (Jazz, Rock, Pop, Experimentelle Musik) handelt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit beleuchtet werden.
In der Antike waren es vor allen Dingen sportliche Wettkämpfe, die eine Spielstätte benötigten. Spiele definierten sich als zweckfreie Tätigkeiten zur Unterhaltung der Bevölkerung. Erst später kamen Musik und Theater hinzu. Griechische und römische Amphitheater sind die ersten und noch heute erhaltene Beispiele für Spielstätten, die eigens für den Zweck des Spiels vor Publikum errichtet wurden.
Sehr viel später kamen Schauspielhäuser hinzu. Allen voran und bis heute unerreicht Shakespeare’s Globe Theatre in London, ein offener, runder Holzbau, eigens für den Zweck des Schauspiels konzipiert. Es folgten Opernhäuser und Philharmonien in aller Welt, nicht selten architektonische Wahrzeichen einer Metropole.
Allen gemeinsam ist die Tatsache, dass diese Gebäude eigens für den Zweck der Kunstpräsentation geschaffen worden sind. Fast immer war sowohl die Errichtung als auch der Betrieb eine öffentliche, kirchliche, kurfürstliche oder monarchistische Angelegenheit. Lediglich die Filmpaläste und Musicaltheater im 20. Jahrhundert wurden i.d.R. von privater Hand errichtet und konnten teilweise mit großem wirtschaftlichen Erfolg betrieben werden.
Dementsprechend waren auch die vorgetragenen Inhalte i.d.R. künstlerisch abgesichert, aus dem Stadium des Experimentes entwachsen und kaum kritisch denen gegenüber, die den Fortbestand der jeweiligen Institution garantierten.
Ganz anders stellt sich die Situation in der nicht-aufgeforderten Kunst, also der sogenannten „freien“ Kulturszene dar. Hier entstanden „Spielräume“ im wahrsten Sinne des Wortes in bereits vorhandenen Gebäuden, die ursprünglich einem anderen Zweck gedient haben.
Diese „gebrauchten“ Räume in alten Fabriken oder Fabriketagen, in Feuerwachen oder E-Werken ermöglichten neue Wege der Präsentation und der Rezeption. Nicht selten entstanden und entstehen hier neue, alternative Aufführungsformen bis hin zu inhaltlich-ästhetischen Konzepten, die den Ort der Aufführung reflektieren. Bekanntes Beispiel hierfür sind die Lofts im New York der 80er Jahre, die die Entwicklung einer speziellen Musizierhaltung ermöglicht und vorangetrieben haben. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass hier auch die Inhalte nicht immer konform mit der jeweils „geltenden Lehre“ oder politisch opportun waren.
Innerhalb dieser Spielstätten der „nicht-aufgeforderten“ Kultur kann man zwei grundsätzlich verschiedene Modelle definieren: Zum einen gibt es hier Spielstätten mit einem eher zufälligen Programmangebot. Jemand ist im Besitz einer entsprechenden Räumlichkeit und kennt jemanden, der etwas hat, dass in dieser Spiel- oder Ausstellungsfläche präsentiert werden könnte. Dies kann Musik, Theater oder eine Mischform, aber auch Literatur, Filme oder einfach nur das Ausstellen von Skulpturen, Bildern oder Fotografien sein. Nach den Prinzipien von „Trial & Error“, „Angebot und Nachfrage“ werden Dinge angeboten, für die es im günstigsten Fall eine ausgeglichene Balance auf Anbieter- und auf Nachfragerseite gibt.
Prominentes Beispiel hierfür ist die Knitting Factory in New York, einer der wichtigsten Spielstätten für Aktuelle Musik in den 90er Jahren. Der damalige Betreiber wollte ursprünglich eine Galerie für moderne Kunst in einer alten Weberei in Soho betreiben. Als die Kundschaft konsequent ausblieb, bot er seine Räumlichkeiten Jazz-Musikern an, die daraus eine florierende Konzertbühne machten. Aber auch die meisten sozio-kulturellen Zentren verstehen sich weniger als profilierte Programmanbieter, als vielmehr als offene Plattform für die Präsentation aller denkbarer Darbietungen.
Das andere Modell einer freien Spielstätte ist Ergebnis der gezielten Suche einer Einzelperson oder einer Personengruppe nach einem Raum, der für die Präsentation der jeweiligen Kunst geeignet ist. Hier folgt also die Form der Funktion und nicht umgekehrt – wie im vorangegangenen Beispiel. In diesen Fällen entsteht im günstigen Fall ein Ort, wo ein bereits vorhandener Inhalt regelmäßig einem Publikum präsentiert werden soll.
Bekanntes Beispiel für diese Form der Spielstätte ist das Bimhuis in Amsterdam. Hier fand der Berufsverband Improvisierender Musiker nach langer Suche in den 70er Jahren eine stillgelegte Produktionsstätte, die zu einer der erfolgreichsten Spielstätten für Aktuelle Musik in Europa hergerichtet wurde. All diesen Spielstätten gemeinsam ist die Tatsache, sich in bereits existierenden Gebäuden, die ursprünglich für einen anderen Zweck errichtet worden waren, zu befinden und angepasst zu haben.
Doch in Amsterdam geschah das bis dahin Undenkbare: Nach immer heftiger werden Streitigkeiten mit Anwohnern wegen Lärmbelästigung, bot die Stadt Amsterdam den Betreibern des Bimhuis als Ersatzspielort die Errichtung eines Neubaus am alten Hafen an. Das neue Bimhuis wurde im Februar 2005 eröffnet und wurde die erste neu gebaute und eigens zu diesen Zweck ausgestattete Spielstätte für Improvisierte Musik in Europa. Die Zustimmung von Publikum und Musikern war überschwänglich und hält weiterhin an.
Damit wurde ein Paradigmenwechsel mit noch völlig offenen Ausgang eingeläutet. Ein Neubau für den Jazz! Vorausgegangen war im Herbst 2004 die Eröffnung des „Jazz at Lincoln Center“ in New York. Ebenfalls ein Neubau, hier jedoch sogar mit drei Spielstätten, eigens gebaut und eingerichtet für die Präsentation von Improvisierter Musik. Dies war für die USA und ihrem Verhältnis zum Jazz, einer Musikform die traditionell in Bordellen und später in schlechtbelüfteten Kellern – überwiegend von farbigen Musiker – zur Aufführung kam, mehr als ein Paradigmenwechsel.
Hier schließt sich der Kreis zumindest in diesem Beitrag. Völlig offen ist, wohin diese Entwicklung führen wird. Mehr als umstritten ist, ob eine ehemals alternative Kunstform wie der Jazz, Neubauten mit Leben füllt, sie lediglich verkraftet oder sie endlich verdient hat. Wie wichtig ist die Kombination von alternativer darstellender Kunst mit alternativen – also gebrauchten – Räumlichkeiten? Ersetzen neugebaute Spielstätten für Aktuelle Musik in Zukunft den Neubau von Opernhäuser und Philharmonien? In den USA würde viele diese Frage ohne Zögern mit „Ja!“ beantworten. Interessanter Stoff für eine weitergehende Diskussion.