Big Ears 2016 – Ein Festivalbericht

(Aus: Moers Festival-Blog 2016)

Warum sind es gerade die kleinen Städte abseits der Metropolen, die Austragungsort großer Musikereignisse sind? Wie kommt es, dass ausgerechnet im niederrheinischen Moers, im österreichischen Saalfelden oder im schweizerischen Willisau, und wenn man den Radius erweitert, im finnischen Tampere, im kanadischen Victoriaville oder im australischen Wangaratta weltbekannte Musikfestivals entstanden sind? Und wenn man zurückblickt, warum gibt es die Festivals in Donaueschingen und Bayreuth? Fast überall geht die Gründung dieser Festivals auf die Initiative einer einzigen Person zurück. Und fast immer ist diese Person in der jeweiligen Stadt aufgewachsen, lebt dort oder hat zumindest eine starke Bindung dorthin.

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In Knoxville im US-Bundesstaat Tennessee war es der Event-Manager Ashley Capps, der jährlich über 1.000 Konzerte im ganzen Südosten der USA veranstaltet und sich mit dem Big Ears Festival den Wunsch erfüllte, in seiner Heimatstadt ein Festival ohne kommerzielle Zwänge und ohne inhaltliche Kompromisse zu machen. Prominentester Musiker der ersten Festivalausgabe war Philip Glass, um den herum Capps ein genre-freies Programm konzipierte. Von Anfang an war die Idee zu erkennen, die aktuelle Musik Nordamerikas auf ihre Kreativität hin zu untersuchen und dabei komponierte, improvisierte und populäre Musik hierarchiefrei nebeneinander zu präsentieren. Das war 2009. Im Mittelpunkt des 2010er Festivals stand Terry Riley als erster Artist in Residence. Weil Capps sich in den Kopf gesetzt hatte, Steve Reich als Artist in Residence für sein drittes Festival zu haben, wurde der jährliche Festivalrhythmus solange unterbrochen bis Reich Zeit hatte. Das war im März 2014.

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„An Extraordinary Music Festival“ – Street Banner in Downtown Knoxville

Seitdem ist in Knoxville das bemerkenswerteste Musikfestival Nord-Amerikas herangewachsen. Nach dem Kronos Quartet in 2015, folgte in diesem Jahr John Luther Adams als Artist in Residence. Adams war mit zahlreichen Platzierungen im Programm vertreten, einschließlich der Aufführung seines Orchesterstücks „Become Ocean“ durch das Knoxville Symphony Orchestra. Hinzu kamen einige regelmäßig wiederkehrende Gäste wie Bryce Dessner (von The National), The Necks aus Australien und Marc Ribot mit mehreren Auftritten.

Diesjähriger Höhepunkt sollte das gemeinsame Konzert der Big Ears-Stammgäste Laurie Anderson und Philip Glass im ausverkauften „Tennessee Theatre“, der größten Spielstätte des Festivals, werden. Doch was auf dem Papier interessant klingt, kann sich auf der Bühne manchmal als Irrtum herausstellen. Alles was die Performance dieser beiden Granden der US-Avantgarde vermissen ließ, lieferten Sam Amidon und Nico Muhly, beide ebenfalls Big Ears-Wiederkehrer, im „Bijou Theatre“ ein paar Stunden später: great musicianship und großartige Kunst. Für mich der beste Beitrag des diesjährigen Festivals.

Tennessee Theatre

Tennessee Theatre

Zum ersten Mal in diesem Jahr zu Gast war Anthony Braxton mit zwei verschiedenen Besetzungen, Vijay Iyer im Duo mit Wadada Leo Smith, Marshall Allan mit dem Sun Ra Orchestra, die Gruppen Wolf Eyes, Yo La Tengo und Faust, Zeena Parkins & Ikue Mori, Tuareg-Gitarrist Bombino, Maya Beiser, Mary Halvorson, eighth blackbird, Sunn O))), um nur einige zu nennen.

Knoxville verfügt über eine große Anzahl gut ausgestatteter und über die ganze Stadt verteilter Spielstätten. Darunter zwei große Häuser, das „Tennessee Theatre“ und das „Bijou Theatre“, die den Charme des Südostens im 19. Jahrhundert nachempfinden lassen. Mit dem „The Mill & Mine“ wurde in diesem Jahr eine neue Spielstätte mit 1.200 Stehplätzen pünktlich zum Festivalbeginn eröffnet. Viele Konzerte des viertägigen Events, die alle übrigens hervorragend produziert sind – vor allem was die Ton- und Lichttechnik betrifft, finden parallel statt. Eine Tatsache, die einen oft vor die Qual der Wahl stellt.

Philip Glass & Laurie Anderson @ Tennessee Theatre

Philip Glass & Laurie Anderson @ Tennessee Theatre (Foto: Bill Foster)

Was besonders beeindruckt, ist die Begeisterung mit der die Bewohner von Knoxville ihr Festival feiern. Der überwiegende Teil der Eintrittskarten wird in Knoxville selbst verkauft. Die ganze Stadt scheint das Festival zu leben und zu lieben. Dieser Eindruck stellt sich schon bei der Anreise ein. Unübersehbar der Stolz des Taxifahrers, der mich vom McGhee Tyson Airport in die Stadt fährt, als ich ihm auf seine Frage („What brings you to Knoxville?“) antworte, dass ich für das Festival von Deutschland angereist bin.

Es wäre nicht gerecht, die Festivals in Knoxville und Moers bezüglich ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung zu vergleichen. In Moers gab es bis 2013 immer zwei Festivals unter gleichem Namen: Ein internationales Musikfestival, das erst open-air, dann im größten Zirkuszelt Europas stattfand und parallel dazu ein regionales Pfingstreffen mit Zeltstadt und Händlermarkt im Freizeitpark. In Knoxville gibt es nur das internationale Musikfestival. Und während das Big Ears ein vergleichsweise junges Festival ist, ist das Moers Festival in einer Phase entstanden, in der alles Fremdartige reflexartig auf die Abwehr des konservativen Teils der Stadtgesellschaft gestoßen ist. Kein anderes Ereignis hat die Stadt damals so polarisiert wie das Internationale New Jazz Festival. Reste dieser Ressentiments sind immer noch vorhanden. Auch wenn diese Bedenken immer weniger werden und das Festival die Stadt heute nicht mehr annähernd so spaltet wie noch in den 1970er Jahren, gibt es, was die Haltung zu Internationalität betrifft, unterschiedliche Auffassungen. So erklärte mir der ehemalige Bürgermeister Norbert Ballhaus, als wir über dieses Thema sprachen, dass er in Moers und nicht in New York gewählt worden ist.

The Mill & Mine

The Mill & Mine (Foto: Bill Foster)

Ganz anders Madeline Rogero, die Bürgermeisterin von Knoxville. Sie ist stolz auf ihr Festival gerade wegen der Internationalität, die das Festival in die Stadt bringt. Gäste aus aller Welt und positive Berichte in allen überregionalen US-amerikanischen Zeitungen sind genau das, was sie für das Image ihrer Stadt braucht. Knoxville mit seinen 180.000 Einwohnern ist die drittgrößte Stadt Tennessees und will weiter nach vorne. Das spürt man hier in allen Bereichen. Und dass Kunst und Kultur im 21. Jahrhundert die wichtigsten Standortfaktoren im Städtewettbewerb sind, hat man hier schon lange erkannt. Und Mrs. Rogero hat auch erkannt, dass man damit Wahlen gewinnen kann. Die Demokratin ist im vergangenen Dezember mit großer Mehrheit für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden.

Natürlich gab und gibt es auch in Moers, mit gut 100.000 Einwohnern die kleinste Großstadt unserer Republik, sehr viele Menschen, die das Festival gerade wegen seiner Internationalität schätzen, seinen großen Wert für die Stadt erkennen und es nach Kräften unterstützen. Wie sonst würde sich das Festival in seinem 45. Lebensjahr bester Gesundheit erfreuen können. Doch es liegt in der Natur der Sache, dass die Befürworter ihre Wertschätzung nicht so offensiv zeigen, wie die Gegner ihre Abneigung.

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Nico Muhly, Sam Amidon & Nadia Sirota @ Bijou Theatre

Von Knoxville lernen, heißt die Menschen in der Stadt mitzunehmen. Und in diesem Sinne gibt es immer wieder und immer mehr ermutigende Signale. So hat sich erst vor kurzem das „Bündnis für Moers“, das aus SPD, Grünen und Grafschaftern besteht und im Stadtrat die Mehrheit stellt, gemeinsam mit dem Bürgermeister hinter das Festival gestellt. Sehr erfreulich ist auch, dass die ganzjährige Institution des „Improviser in Residence“ immer mehr Zustimmung findet und z.B. zu den Übergabekonzerten, die seit zwei Jahren in der Festivalhalle stattfinden, jedes Mal über 400 Besucher gekommen sind.

Immer mehr Moerser Geschäftsinhaber fragen bei uns Plakate an, um sie in ihren Läden aufzuhängen, und die Mittelstandsvereinigung der Moerser CDU hat sich zum ersten Mal positiv zum Festival geäußert. Bereits geübte Praxis ist, dass die beiden Kirchenkantoren Axel Berchem und Boris Berns das Festival in ihre Häuser einladen bzw. sogar ein eigenes Konzert zum Festival veranstalten. Moers bekennt sich immer mehr zu seinem Festival. Bis nach Knoxville ist der Weg zwar noch weit, aber das Ziel ist immerhin in Sicht.